Die Einzigartigkeit des Schilfgürtels des Neusiedler Sees
Der Schilfgürtel des Neusiedler Sees ist eines der größten zusammenhängenden Schilfgebiete Europas und wird in seiner Ausdehnung nur von den Schilfflächen des Donau-Deltas und den Röhrichten an der Mündung der Wolga und Ural-Fluss übertroffen.
Aus seiner ungewöhnlichen Größe leitet sich auch die herausragende Bedeutung für den Naturschutz ab, da hier erhebliche Anteile des gesamteuropäischen Bestands schilfbewohnender Organismen vorkommen. Für die Ökologie des Schilfgürtels ist der Steppensee-Charakter des Neusiedler Sees bestimmend.
Der See ist durch seine geringe Tiefe, ursprüngliche Abflusslosigkeit, einen erhöhten Salzgehalt, hohe sommerliche Wassertemperaturen und einen fast ausschließlich von Niederschlägen und starker Verdunstung bestimmten Wasserhaushalt gekennzeichnet. Dies führt zu bedeutenden Wasserstandsschwankungen, die zwischen völliger Austrocknung und tiefer Überflutung pendeln. Das Schilf ist eine Pflanze, die mit solchen Bedingungen besonders gut zurechtkommt. Tatsächlich sind die größten Schilfbestände weltweit an Gewässern der Steppen-, Halbwüsten und Wüstengebieten der Erde zu finden.
Ausdehnung und Ausprägung
Das Ufer des Neusiedler Sees ist heutzutage fast zur Gänze schilfbestanden, Unterbrechungen des geschlossenen Schilfgürtels gibt es nur in einem einzigen, natürlicherweise schilffreien Strandabschnitt bei Podersdorf sowie im Bereich der künstlich angelegten Seebäder.
Die Breite des Schilfgürtels ist sehr unterschiedlich, sie reicht von knapp über 100 m bis zu mehr als 5 Kilometern, im ungarischen Teil des Gebiets ist der Schilfgürtel an einer Stelle sogar 11 km breit.
Die Schilfbestände treten aber nicht nur entlang der Ufer, sondern auch auf Inseln, bzw. im Bereich von Untiefen im See auf.
Die größte Schilfinsel erstreckt sich über beachtliche 5 km². Auch in sich ist der Schilfgürtel keineswegs einheitlich, er besteht sowohl aus dicht mit Röhricht bewachsenen Flächen, als auch aus Zonen, in denen das Schilf in isolierten Horsten wächst, oder gänzlich fehlt. Die Größe der schilffreien bzw. nur locker bewachsenen Flächen kann von einigen Quadratmetern bis zu mehreren Quadratkilometern reichen.
Der Abwechslungsreichtum der Schilfbestände wird durch unterschiedliche Alters-, Vitalitäts- und Entwicklungsstadien weiter erhöht. Landseitig ist das Schilf oft schütter und relativ niedrigwüchsig, seeseitig erreichen kräftige, in tiefem Wasser stehende Halme eine Höhe von bis zu 4 Metern. In jungen, vor kurzem abgebrannten oder gemähten Schilfbeständen stehen die Halme gleichmäßig und dicht, in älteren, über viele Jahre ungestörten Altschilfbeständen sammeln sich tote, geknickte und kreuz und quer liegende Halme zu einer dichten Knickschicht an, in der es nicht nur vertikale Strukturen, sondern auch horizontale und schräge Elemente gibt.
In Bereichen, die Jahrzehnte lang unbeeinflusst geblieben sind, kann es zum Umbrechen des ganzen Bestands und zu seiner völligen Auflösung kommen. Auch die Dauer und Tiefe der Wasserbedeckung, die Ansammlung von organischem Material und von Schlamm, sowie der Sauerstoffgehalt des Substrats beeinflusst die Höhe, die Vitalität und die Wuchsform des Schilfs.
In dauerhaft tief überschwemmten Bereichen tendieren die Schilfbestände dazu, sich in Horste aufzulösen, während zeitweise niedrige Wasserstände flächendeckende Bestände fördern. Gute Sauerstoffversorgung, wie sie am seeseitigen Rand des Schilfgürtels und entlang von Kanälen herrscht, fördert die Ausbildung flächenhaft geschlossener, dichter und hochwüchsiger Bestände, während Sauerstoffzehrung in Inneren des Schilfgürtels zu schlechtem Wachstum, allmählicher Auflockerung und zuletzt sogar zum Absterben des Röhrichts führen kann.
Zu flächenhaftes Absterben von Schilfbeständen kann es auch durch eine Schädigung der Schilfrhizome durch den Bodendruck von Erntefahrzeugen kommen. Werden die Rhizome durch zu hohe Belastung zerdrückt, sterben die Schilfpflanzen. Gefährdet sind auch zu dicht über der Wasseroberfläche gemähte Schilfbestände, in denen bei plötzlichen Wasserstands-Anstieg über die Halmstoppel Wasser in das innere Belüftungssystem der Schilfpflanzen eindringen kann. Auch solche Flächen sterben großräumig ab.
Ungewöhnliche Flora und Fauna
Der Schilfgürtel zeichnet sich durch die nahezu alleinige Vorherrschaft einer einzigen Pflanzenart aus, des Schilfs (Phragmites australis). Neben dem Schilf finden sich nur einige wenige andere Sumpfpflanzen-Arten, in Vorkommen, die nur auf wenige Stellen oder bestimmte Zonen im Schilfgürtel beschränkt sind. Dazu gehören vor allem das Schneidried (Cladium mariscus), die Knollenbinse (Bolboschoenus maritimus) und die Salz-Teichbinse (Schoenoplectus tabernaemontani) sowie landseitig die Ufer-Segge (Carex riparia). In größeren Beständen tritt lediglich der Schmalblättrige Rohrkolben (Typha angustifolia) in Erschienung, oft an Stellen an denen das Schilf abgestorben ist. Die offenen Wasserflächen werden von Wasserlinsen-Arten (Lemna sp.) besiedelt, Unterwasserpflanzen sind durch den Gemeinen Wasserschlauch (Utricaria vulgaris), das Nixkraut (Najas marina) und durch einige Armleuchteralgen-Arten (Chara sp.) vertreten.
Der Schilfgürtel des Neusiedler Sees ist aus Naturschutzsicht vor allem wegen seiner besonderen, auf die Nutzung von Schilfbeständen spezialisierten Vogelwelt berühmt: Unter anderem sind hier Zwergscharbe (Phalacrocorax pygmaeus) , Silberreiher (Ardea alba) , Löffler (Platalea leucorodia), Kleines Sumpfhuhn (Porzana parva), Wasserralle (Rallus aquaticus) , Rohrschwirl (Locustella luscinoides), Mariskensänger (Acrocephalus melanopogon), Teichrohrsänger (Acrocephalus scirpaceus) und Bartmeise (Panurus biarmicus) mit europaweit herausragenden Brutbeständen vertreten. Aber auch die Vorkommen anderer Tiergruppen tragen zum außerordentlichen naturschutzfachlichen Wert des Gebiets bei, wie zum Beispiel die Sumpfmaus (Microtus oeconumus mehelyi), der Donau-Kammmolch (Triturus dobrogicus), die Rotbauchunke (Bombina bombina) oder der Schlammpeitzger (Misgurnus fossilis).
Mit dem Schilf ist auch eine besondere, zum Teil hochspezialisierte Fauna von Wirbellosen verbunden: Das Spektrum reicht hier von Schmetterlingsarten wie dem Rohrbohrer (Phragmataecia castaneae), dem Riesenzünsler (Schoenobius gigantella), der Schilfeule (Archanara geminipunctata) und dem Schilf-Bürstenspinner (Laelia coenosa), Fliegen-Arten wie der Schilf-Halmfliege ( Lipara lucens) oder der Schilf-Gallmücke (Giraudella inclusa), Blattkäfern wie dem Schilfkäfer (Donacia clavipes), bis hin zu Milben, wie der Schilf-Laufmilbe (Steneotarsonemus phragmitidis) und Schilfspinnen, wie der vom Neusiedler See erstmals beschriebenen Singa phragimteti.
Das LE-Projekt „Entwicklung nachhaltiger Schilferntetechniken und Monitoring-Schilfgürtel Neusiedler See“
In den letzten Jahren wurden im Schilfgürtel dynamische Veränderungen beobachtet, die zum Teil mit der Klimakrise, zum Teil mit autogenen (d.h. Ökosystem-internen, aus dem Eigenschaften des Systems hervorgehenden) Entwicklungen im Schilfgürtel und zum Teil mit der Schilfbewirtschaftung zu tun haben. Diese Veränderungen werfen die Frage auf, wie künftig mit dem Schilfgürtel umzugehen ist, damit sein naturschutzfachlicher Wert, aber auch seine Ökosystemleistungen, die uns allen nutzen, dauerhaft erhalten bleiben können.
Das 2018 begonnene und bis Ende 2020 laufende LE-Projekt „Entwicklung nachhaltiger Schilferntetechniken und Monitoring-Schilfgürtel Neusiedler See“ sollte das Vorkommen und den Erhaltungszustand von Schilfvögeln und Amphibien näher untersuchen und mit dem Zustand und der Bewirtschaftung der Schilfflächen in Beziehung setzen.
Ziel des Projekts war es, einige Maßnahmen des Managementplans 2014 zu konkretisieren und umzusetzen, aber auch offene Fragen in diesem Zusammenhang zu klären. Besonderes Augenmerk galt dabei der Schilfbewirtschaftung. Hier sollte untersucht werden, inwieweit die Bewirtschaftung nach dem immer häufigeren Ausbleiben der winterlichen Eisbedeckung am Neusiedler See (die früher die Ernte erleichtert hat und ein Garant dafür war, dass keine Schnittschäden entstehen) noch nachhaltig ist, und ob sie hinter den vermehrt beobachteten Absterben von Schilfflächen steht. Aus den Ergebnissen sollten Vorschläge für ein besseres Management des Schilfgürtels abgeleitet werden.
Das Projekt hat folgende Erkenntnisse geliefert
- Es wurde eine aktuelle Flächenbilanz des Schilfgürtels erstellt, die einen Überblick über Schilfalter und die Schilfstruktur sowie die Ausdehnung der Schilfernteflächen und die Lage von geschädigten bzw. absterbenden Flächen liefert.
- Erstmals gibt es einen Einblick in die Bedeutung des Schilfgürtels für die Amphibienfauna (Molche, Unken, Frösche und Kröten). Amphibien sind demnach im Schilfgürtel in großer Artenzahl und reproduzierenden Beständen vertreten, treten aber in vergleichsweise geringer Dichte auf. Allein wegen der Großflächigkeit des Schilfgürtels sind die Bestandsgrößen dennoch beeindruckend und naturschutzfachlich bedeutend. Zwischen der Amphibienbesiedlung und den Schilfparametern Alter, Vitalität und Nutzungsart konnte kein klarer Zusammenhang festgestellt werden. Im Vergleich zu den 1980er Jahren hat sich die Bedeutung der landnahen Schilfbereiche für Amphibien stark verringert. Teichfrosch und kleiner Wasserfrosch, die in den 1980er Jahren einzigen Wasserfrosch-Taxa am Neusiedlersee, wurden im Schilfgürtel zwischenzeitlich fast vollständig durch den Seefrosch ersetzt.
- Die Kenntnisse über Bestandsgröße und Verteilung der Schilfvögel wurden auf den neuesten Stand gebracht. Die schon bekannte Bedeutung der Schilfstruktur und des Schilfalters für die Schilfvögel wurde bestätigt. Ganz junge häufig, geschnittene Bestände sind demnach nur von geringer Bedeutung für Schilfvögel. Alte, das heißt längere Zeit nicht genutzte, strukturreiche Bestände sind hingegen von großer Bedeutung, vor allem für einige spezialisierte Arten, wie den Rohrschwirl, den Mariskensänger und das Kleine Sumpfhuhn. Allerdings – und dies konnte im Projekt erstmals gezeigt werden – nimmt die Eignung von Altschilfflächen nach etwa 15-20 Jahren deutlich ab, sodass zur Erhaltung der Vogelbestände eine periodische Verjüngung des Schilfgürtels wünschenswert erscheint.
- Die gegenwärtigen ökonomischen und technischen Rahmenbedingungen für die Schilfbewirtschaftung lassen es nicht als wahrscheinlich erscheinen, dass die Erntebetriebe eine größere Rolle in der Pflege überalterter Schilfbestände übernehmen können. Die Schilfernte ist insgesamt rückläufig und konzentriert sich aus arbeitsökonomischen und bringungstechnischen Gründen auf die landseitigen Teile des Schilfgürtels. Dennoch ist es wichtig, dass die Ernte in den bewirtschafteten Gebieten in naturschutzverträglicher Form abläuft.
- In Zusammenhang mit der Konzentration der Ernteflächen auf die landseitigen Teile des Schilfgürtels ist der ehemals von Großseggen beherrschten, und jetzt vom Schilf überwachsenen Randzone verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Zone war früher für Amphibien und bestimmte Vogelarten von großer Bedeutung, hat aber wegen veränderter Wasserstandsverhältnisse, veränderter Bewirtschaftung (Aufgabe Grünschnitt, Einstellung der Beweidung?) und durch die landseitige Ausbreitung der Schilfbestände an Bedeutung verloren. Es wäre zu prüfen, wie weit diese Zone durch entsprechende Management-Eingriffe wiederhergestellt werden kann.
- Anders als zu Beginn des Projekts angenommen, hängt die Gefahr einer Schädigung von Schilfbeständen nicht so sehr von der Verwendung bestimmter Maschinen, sondern mehr von der Art ab, wie diese Maschinen eingesetzt werden. Wichtig ist es, die Ernteflächen nicht wiederholt zu befahren, Fahrgeschwindigkeit und Rhythmus gleichmäßig zu halten und Wendemanöver bodenschonend durchzuführen. Bei umsichtiger Handhabung scheinen auch die derzeit vorwiegend verwendeten Raupenfahrzeuge keine, oder nur geringe Schäden zu verursachen. Zu Schnittschäden kann es aber dennoch durch plötzlichen Wasserstandsanstieg kommen, wenn Wasser in bodennah abgeschnittene Schilfstoppel eindringt und das innere Belüftungssystem der Schilfpflanze flutet. Die natürlichen Wasserstandsschwankungen entziehen sich freilich der Kontrolle der Schilfbewirtschafter.
- Wegen des bestehenden Verbots, Schilfflächen abzubrennen um sie für die Ernte im Folgejahr vorzubereiten, sind viele Schilfbewirtschafter dazu übergangen, altschilfreiche Flächen niederzuwalzen. Diese Notlösung (die im Unterschied zum Abbrennen auch mit verringerten Ernteerträgen einhergeht) ist aus Naturschutzsicht sehr ungünstig. Es wäre deshalb von Vorteil, wenn ein gezielter, gut geplanter und wohl überlegter Einsatz von Feuer im Dienst der Schilfbewirtschaftung wieder erlaubt würde.
- Feuereinsatz könnte auch das Mittel der Wahl sein, um die Verjüngung zusammenbrechender Altschilfbestände einzuleiten und den günstigen Erhaltungszustand der Vogelbestände zu sichern. Der Feuereinsatz zur Schilfpflege dürfte allerdings nur in weit größeren zeitlichen Abständen (15-20 Jahren) stattfinden, als das Brandmanagement im Dienste der Schilfernte. Er müsste in einem gut überlegten Rotationssystem erfolgen, welches sicherstellt, dass geeignete Altschilfflächen immer in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Da die Alterungs- und Zerfallsprozesse in Teilen des Schilfgürtels bereits weit fortgeschritten sind, müsste die Einrichtung und Umsetzung eines solchen Managementregimes schon in den nächsten Jahren stattfinden., wenn die Erhaltungsziele erreicht werden sollen.
- Rund um ein mögliches Feuermanagement gibt es zahlreiche offene Fragen rechtlicher, ökologischer, umweltpolitischer und logistischer Natur. Es müsste geklärt werden, wie sich der Feuereinsatz auf CO2- und Feinstaub-Emissionen auswirkt, ob der Nachteil, der für das Klima durch CO2-Emissionen entsteht, nicht durch Vorteile aufgewogen wird, die sich aus Vermeidung von Methan-Emissionen ergibt, zu denen es beim Verzicht auf das Brennen kommen würde. Weiters müsste geklärt werden, wie sich Feuer auf die Vitalität der Schilfbestände und auf wichtige Komponenten des Ökosystems Schilfs auswirkt. Immer noch sind die im Schilfgürtel ablaufenden ökologischen Prozesse und die Entwicklungsdynamik der Schilfbestände zu wenig verstanden, um gesicherte Prognosen in Bezug auf Managementeingriffe, wie den kontrollierten Feuereinsatz machen zu können – hier besteht noch grundsätzlicher Forschungsbedarf. Die Wirkung eines Brandmanagements auf den Nährstoffhaushalt des Sees müsste ebenfalls untersucht werden. Logistisch ist zu klären, wie Feuer kontrolliert und flächenspezifisch eingesetzt werden kann, ohne dass es zu Sicherheitsproblemen und unerwünschten Verlusten an Altschilfbeständen kommt. Weiters müssten ideale Umtriebszeiten und die räumlichen Muster des Feuereinsatzes geklärt werden. In Hinblick auf die Nationalpark-Kernzone ist zu klären, wie das Gebiet vor dem Übergreifen kontrolliert gelegter Brände geschützt werden kann, da in der Kernzone definitionsgemäß keine menschlichen Eingriffe zulässig sind.
- Abschließend wird vorgeschlagen, ein breit angelegtes interdisziplinäres Projekt zur Dynamik der Schilfbestände und zum Feuereinsatz zu lancieren, um letztlich ein naturschutzkonformes Management von Ernte- und Naturschutzflächen im Schilfgürtel entwickeln zu können. Ein derartiges Projekt sollte möglich rasch entworfen und eingereicht werden, da die Alterungs- und Zerfallsprozesse in Teilen des Schilfgürtels bereits weit fortgeschritten sind und hier dringender Handlungsbedarf in Hinblick auf die Sicherung des Erhaltungszustands von ornithologischen Schutzgüter besteht.